Und plötzlich wurde es finster
Vor 25 Jahren kommt der Tod nach Galtür und verändert die Gemeinde für immer. Die Bilder davon gehen denen, die dabei waren, nie wieder aus dem Kopf – drei Zeitzeugen erinnern sich.
Vor 25 Jahren kommt der Tod nach Galtür und verändert die Gemeinde für immer. Die Bilder davon gehen denen, die dabei waren, nie wieder aus dem Kopf – drei Zeitzeugen erinnern sich.
"Einer hat gegraben wie ein Wilder. Ich hab gesagt, da wirst du nicht lang graben, wenn du so weitermachst. Da hat er geantwortet, da drin liegt mein Geeti-Bue, mein Patenkind, des müssen wir aussiholen."
"Es hat ausgeschaut wie in einem Kriegsgebiet. Es läuft einem kalt über den Rücken, wenn man zum ersten Mal mit einer Katastrophe von solchem Ausmaß konfrontiert ist."
"Bei starkem Schneefall kommt auch heute die Erinnerung, was alles passieren kann. Obwohl man in Galtür so viel in Sicherheit investiert hat wie kaum in einem anderen Ort in den Alpen."
"Es hat geschneit und geschneit. Wir in Galtür haben gespürt – jetzt wird es eng. So viel Schnee! Da muss etwas passieren." Wenn sich Diakon Karl Gatt erinnert – dann auch an die Beklemmung, die Angst und die Sorge in den Tagen vor der Katastrophe. "Was hat die Natur mit uns vor?" Diese Frage ging ihm schon damals durch den Kopf.
"Es hat geschneit und geschneit. Wir in Galtür haben gespürt – jetzt wird es eng. So viel Schnee! Da muss etwas passieren." Wenn sich Diakon Karl Gatt erinnert – dann auch an die Beklemmung, die Angst und die Sorge in den Tagen vor der Katastrophe. "Was hat die Natur mit uns vor?" Diese Frage ging ihm schon damals durch den Kopf.
Gatt, ein freundlicher, 70 Jahre alter Mann mit weißem Bart, steht mitten in der Pfarrkirche Galtür – einem Ort, der ihm seit jeher Halt gegeben hat. Mit dem Kopf ist er aber ganz woanders. Gatt denkt an den 23. Februar 1999, einen Tag, der sein Leben und das vieler anderer bis in die Grundfesten erschüttert hat. "Die Bilder von damals sind sofort wieder da", sagt er.
Gatt, ein freundlicher, 70 Jahre alter Mann mit weißem Bart, steht mitten in der Pfarrkirche Galtür – einem Ort, der ihm seit jeher Halt gegeben hat. Mit dem Kopf ist er aber ganz woanders. Gatt denkt an den 23. Februar 1999, einen Tag, der sein Leben und das vieler anderer bis in die Grundfesten erschüttert hat. "Die Bilder von damals sind sofort wieder da", sagt er.
"Wir haben die ganze Nacht gebacken."
Die Straße nach Galtür war seit Tagen aufgrund von Lawinengefahr gesperrt. Man brauchte Brot, um die Bevölkerung und die Gäste zu versorgen. Gatt, ein gelernter Bäcker, packte mit an. An jenem Dienstag vor 25 Jahren kommt er deshalb erst am Nachmittag nach Hause. Er ist erschöpft und setzt sich mit seiner Frau hin, um einen Kaffee zu trinken – es ist kurz vor 16 Uhr.
Es kam wie aus dem Nichts. "Zuerst wurde alles finster. Dann kam ein Windsturm, wie ein Tsunami. Kleine Astln klapperten an den Fenstern. Es hat richtig g'schnellt", erinnert sich Gatt. Er greift sofort zum Telefon, um nachzufragen, was passiert ist. Es ist eine "gewaltige Lane", ein Haus wurde komplett mitgerissen, heißt es. Von den wirklichen Ausmaßen ahnt da noch niemand etwas. Der Diakon macht sich sofort auf den Weg ins Dorf.
"Ich bin zuerst ins Widum", erzählt Gatt. Dort hatte der gewaltige Luftdruck der Lawine die Fenster samt Stock eingerissen und die Pfarrhäuserin schwer verletzt. Die Wucht drückt sie unter das Waschbecken, das rettet ihr das Leben. Gatt geht weiter. Auf den Straßen sieht man vor lauter Schnee nur wenige Meter weit. Menschen, die nach Verschütteten graben, zerstörte Häuser, Verzweifelte, die nicht wissen, ob Familienmitglieder unter den Schneemassen liegen. Einer sei auf ihn zu und habe panisch gefragt, ob er seine Frau im roten Skianzug gesehen habe. Gatt wird zum ersten Notfallseelsorger vor Ort. "Ich habe mit den Menschen geredet, sie in den Arm genommen." Wenn er über Gefühle spricht, dann immer über die Angst und die Sorge der anderen. Wie ging es ihm selbst? "Ich habe nur noch funktioniert."
Gatt geht an diesem Nachmittag von Haus zu Haus. “Bei den ersten war es nicht so schlimm”, erinnert er sich. Umso näher er aber an die Lawine heran kam, umso klarer wurde das Ausmaß der Zerstörung. Beim sogenannten Haus Luggi suchen Menschen mit Schaufeln, einige graben mit bloßen Händen nach Verschütteten. Das Haus Litzner gibt es nicht mehr, es wurde komplett überrollt. Das Landhaus Walter ist komplett zerstört. Die ersten Toten finden die Hilfsmannschaften beim Haus Winkl. Hildegard Lorenz und ihre Schwiegertochter Edith sind in der Küche von den Schneemassen überrascht worden – sie hatten keine Chance.
In einer Garage hat Doktor Treidl ein Notlazarett eingerichtet. Und kämpft dort ums Überleben jener, die von der Lawine mitgerissen wurden. "Dort ist einer hergekommen zu mir und hat gesagt: Siehst du die zwei Kinder, bete für die, die kommen im April zur Erstkommunion", sagt Gatt. Den Mann trifft er wenige Wochen später wieder. Die beiden Kinder leben da nicht mehr.
Die Tage vor der Lawine
Seit 6. Februar 1999 ist Galtür eingeschneit. Es gibt nur kurze Zeitfenster, zu denen sich die Straße öffnet. Etwa am 13. Februar, als die Sperre für wenige Stunden aufgehoben wurde, um einen Urlauberwechsel zu ermöglichen. Tausende kommen ins Tal.
"In den sechs Tagen davor haben wir immer wieder gesehen, wie Lawinen abgehen." Landeshauptmann Toni Mattle steht am Dach des Alpinariums in Galtür und schaut zu jenem Berg, der damals den Tod in seine Heimatgemeinde gebracht hat: den Grieskogel. Mattle wird wohl wie kein Zweiter mit der Lawinenkatastrophe in Verbindung gebracht. Er ist damals Bürgermeister.
In Galtür macht sich Lagerkoller breit. Am Nachmittag des 23. Februar wird im Ortszentrum ein Fassdaubenrennen veranstaltet, an dem auch zahlreiche Kinder teilnehmen. Es geht wenige Minuten vor der Katastrophe zu Ende und die Teilnehmer zerstreuen sich. Was wäre passiert, wäre die Lawine früher gekommen – diese Frage stellt sich seither so mancher.
Es wurde dunkel
Mattle sitzt gegen 16 Uhr in seinem Büro im Gemeindeamt und bereitet ein Rundschreiben für den kommenden Tag vor. "Plötzlich ist es finster geworden. Der Staub der Lawine hat sich an die Fenster gepresst. Ich bin aufgesprungen vom Schreibtisch und hinausgelaufen", erzählt er, "am Weg zum Feuerwehrhaus sind mir vom Schnee völlig eingestaubte Menschen entgegengekommen, die nach Hilfe gerufen haben, Menschen, die nach ihren Liebsten gesucht haben."
Ein Schneesturm, wie man ihn selten erlebt
Der Bürgermeister löst den Alpinnotruf aus. Wenig später sind schon die ersten Hilfsmannschaften der Bergretter und Feuerwehrleute vor Ort.
Doch sie sind auf sich alleingestellt – es kommt keine Hilfe von außen. Dramatische Anrufe in Landeck dokumentieren die Not. Doch an diesem Nachmittag hat es Windgeschwindigkeiten von über 80 km/h. "Es ist ein Schneesturm, wie man ihn nur selten erlebt", sagt Mattle. Kein Hubschrauber kann landen. "Man hat die Hand vor den Augen nicht gesehen. Erst wenn wieder ein Anruf gekommen ist, 'wir haben die Lana im Keller', oder 'wir haben einen Verschütteten gefunden', dann wurde klar, wie groß diese Lawine ist. Seiner Frau habe er am Telefon gesagt: "Dani, wir wissen noch nicht, suchen wir noch 20 oder 100 Verschüttete."
Als das Sterben ein Gesicht bekommt
Es ist eine Extremsituation. In diesem Chaos stehen plötzlich zwei Männer in Mattles Büro. "Der Lorenz Franz und der Lorenz Martin. Der alte Hüttenwirt der Jamtalhütte hat gemeint, 'die Mama haben sie gefunden und die Edith suchen sie noch'. Wie er das gesagt hat, hat man gespürt, dass man die Mama leider nur noch tot gefunden hat. Und plötzlich hat das Sterben in der Lawine ein Gesicht gehabt – und es war viel persönlicher."
Insgesamt 31 Menschen kommen unter der Lawine um, darunter zwölf Kinder und Jugendliche. Das jüngste ist fünf Jahre alt. Mattle muss an diesem Abend immer wieder gegen den Wunsch ankämpfen, selbst mit Lawinensonde und Spaten hinauszugehen, um bei der Suche zu helfen. Doch er wird als Einsatzleiter gebraucht. Es seien einsame Entscheidungen gewesen, erzählt er. Und einige Bilder gehen nie wieder aus dem Kopf. "Die ersten Anrufe, die mich von den Gästen und Einheimischen erreicht haben, der erste Kontakt mit Familien, die in Galtür Mann und Kinder verloren haben, der erste Weg mit Müttern zur Aufbahrungskapelle, um die Kinder zu identifizieren."
Das letzte Kind wird erst vier Tage nach der Katastrophe ausgegraben. "Auch wenn es tot war, war das ein Stückweit eine Erleichterung für die Einsatzmannschaften. Von einem Ort wegzugehen, von dem man weiß, da ist ein Kind, eine Mama, ein Papa noch nicht gefunden worden, das ist noch viel dramatischer." Die Galtürer sind in diesen Tagen eng zusammengestanden, sagt Mattle. Es hat aber viel Kraft im Ort gebraucht, damit man nicht den Mut verliert.
Wie wird man zum Helden?
Der Beiname "Held von Galtür" wurde Walter Strolz in den letzten 25 Jahren immer wieder umgehängt. Dabei ist er weit weg, als die Lawine am 23. Februar abgeht. Er soll einen Hubschrauber des Innenministeriums von Wien nach Lienz überstellen, als er in der Bundeshauptstadt aus den Nachrichten vom Unglück hört.
Als am folgenden Tag die ersten Hubschrauber in der Früh endlich nach Galtür abheben können, um die lange benötigte Hilfe zu bringen, bekommt der Pilot der Flugpolizei einen neuen Auftrag. "Ich sollte direkt ins Paznaun durchfliegen, um die Bergungsmaßnahmen zu unterstützen." Seine Ladung führt das Ausmaß der Tragödie besonders deutlich vor Augen: 40 Leichensäcke.
Schlimmster Einsatz der Karriere
"Da geht es einem schon kalt über den Rücken", sagt der erfahrene Pilot. "Dieses Ausmaß, wenn man zum ersten Mal im Leben damit konfrontiert ist, das ist schockierend." Bis heute ist Galtür der schlimmste Einsatz seiner Karriere geblieben. "Das sind Momente, die einem schon unter die Haut gehen – die tief gehen und trotzdem muss man weiterfliegen."
"Die Galtürer waren extrem schockiert, sie wirkten zum Teil abwesend und konnten gar nicht richtig realisieren, was da passiert ist", erinnert er sich an den Kontakt mit den Einheimischen.
Den ganzen Tag transportiert Strolz Menschen und Bergungsmaterial. Ohne Pause. Zunächst ist das Wetter gut, über den Tag zieht es aber wieder zu. Der Pilot kommt selbst zum Entschluss, dass es das Beste ist, für den Notfall mit dem Hubschrauber über Nacht in Galtür zu bleiben. Als er zum letzten Mal ins Tal hineinfliegt, kommt kurz nach 16 Uhr eine Funkmeldung. In Valzur, einem abgelegenen Ortsteil von Ischgl, wenige Kilometer von Galtür entfernt, ist eine weitere Lawine abgegangen.
Schlimmster Einsatz der Karriere
"Da geht es einem schon kalt über den Rücken", sagt der erfahrene Pilot. "Dieses Ausmaß, wenn man zum ersten Mal im Leben damit konfrontiert ist, das ist schockierend." Bis heute ist Galtür der schlimmste Einsatz seiner Karriere geblieben. "Das sind Momente, die einem schon unter die Haut gehen – die tiefgehen und trotzdem muss man weiterfliegen."
"Die Galtürer waren extrem schockiert, sie wirkten zum Teil abwesend und konnten gar nicht richtig realisieren, was da passiert ist", erinnert er sich an den Kontakt mit den Einheimischen.
Den ganzen Tag transportiert Strolz Menschen und Bergungsmaterial. Ohne Pause. Zunächst ist das Wetter gut, über den Tag zieht es aber wieder zu. Der Pilot kommt selbst zum Entschluss, dass es das Beste ist, für den Notfall mit dem Hubschrauber über Nacht in Galtür zu bleiben. Als er zum letzten Mal ins Tal hineinfliegt kommt kurz nach 16 Uhr eine Funkmeldung. In Valzur, einem abgelegenen Ortsteil von Ischgl, wenige Kilometer von Galtür entfernt, ist eine weitere Lawine abgegangen.
Fast in eine Lawine hineingeflogen
Das Wetter ist extrem schlecht. Strolz trifft eine Entscheidung, die ihn in den Augen vieler zum Helden macht. In den nächsten eineinhalb Stunden transportiert er, trotz starken Schneefalls, Rettungskräfte zum Einsatzort. Und riskiert dabei auch das eigene Leben.
"Ich bin niedrig geflogen. Einmal ist knapp vor mir eine Lawine abgegangen. Es war wie eine weiße Wand. Ich möchte nicht wissen, was passiert wäre, wenn ich einige Sekunden schneller gewesen wäre."
Vier der zehn Verschütteten können noch lebend geborgen werden, darunter zwei kleine Buben. Einer ist stark unterkühlt und braucht dringend Hilfe. Strolz hebt bei fast völliger Dunkelheit noch einmal ab. Nur mit den Lichtern von Valzur vor Augen, um ihn in Sicherheit zu bringen.
Von seinem Heldenstatus hält Strolz nichts. "Mir sagt das nicht viel. Mit dem Buben, den er in dieser Nacht in Sicherheit fliegen konnte, hat er immer noch Kontakt. "Er lebt jetzt in Innsbruck", sagt Strolz.
38 Tote
Viele hatten kein so großes Glück. Insgesamt 38 Menschen wurden von den Lawinen in Galtür und Valzur getötet. Diakon Karl Gatt kann sich 25 Jahre nach diesen Schicksalstagen an eine unglaubliche Dunkelheit erinnern, die die Gemeinde eingehüllt hat. Die Gäste hatten Galtür verlassen. Am Abend traf man sich in der Pfarrkirche, um für die Lawinenopfer zu beten. "Ich war der Letzte, der gegen 9 Uhr die Kerzen gelöscht und abgesperrt hat. Es war komisch, wenn man aus der Kirche hinaus und nachhause gegangen ist, wenn alles finster war. Kein Freilicht, kein Gast", sagt Gatt.
38 Tote
Viele hatten kein so großes Glück. Insgesamt 38 Menschen wurden von den Lawinen in Galtür und Valzur getötet. Diakon Karl Gatt kann sich 25 Jahre nach diesen Schicksalstagen an eine unglaubliche Dunkelheit erinnern, die die Gemeinde eingehüllt hat. Die Gäste hatten Galtür verlassen. Am Abend traf man sich in der Pfarrkirche, um für die Lawinenopfer zu beten. "Ich war der Letzte, der gegen 9 Uhr die Kerzen gelöscht und abgesperrt hat. Es war komisch, wenn man aus der Kirche hinaus und nachhause gegangen ist, wenn alles finster war. Kein Freilicht, kein Gast", sagt Gatt.
Und dann war da noch die Dunkelheit in den Herzen. "Wir haben alle gewusst, es wird irgendwie weitergehen. Aber es war zuerst zu viel Leid im Dorf", erinnert sich der Diakon. Nachsatz: "Wir haben das gemeinsam bewältigt." Dann zündet er eine Kerze für die Verstorbenen an.
Für ihn ein wichtiges Ritual, auch ein Vierteljahrhundert nach dem Unglück.
Ein Vierteljahrhundert des Wiederaufbaus und der Erneuerung hat Galtür verändert, die Erinnerungen an die Lawinenkatastrophe bleiben jedoch lebendig.
Lesen Sie weiter über Galtürs Gegenwart: "Licht und Schatten"
An dieser Geschichte haben gearbeitet:
Marco Witting, Benedikt Mair, Matthias Reichle, Anita Kapferer, Thomas Böhm, Lukas Engl, Florian Margreiter, Christoph Rauth
Fotos: APA, Bundesheer, TT