Zwischen Krimi und Kult

Die Bögen haben zwei Seiten: eine andere Erzählung über die berüchtigte Innsbrucker Ausgehmeile

@Moritz Cassan

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Es ist Nacht, eiskalt und auf der Straße sind Menschen in dicken Jacken, mit Bechern und Pizzaschnitten unterwegs. Ein Mann mit zerrissenen Jeans bleibt da und dort stehen und fragt sich durch: „Hasch du a Tschigg für mi?“

Vom Inneren mancher Lokale donnert der Bass, bummbummbumm, zwischen den Eingängen zu den Lokalen hängen Fangnetze voller Müll von den Gleisen über den Köpfen, die Türen zu den Clubs und Bars sind voller Tags und Graffiti. Über den Menschentrauben vor den Lokalen hängt Rauch von Zigaretten, Vapes und Joints.

@Schiessendoppler

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@Moschen

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Kassetten auf der PMK Toilette @Moschen

Kassetten auf der PMK Toilette @Moschen

Wer das Leben sucht, findet es hier: in der Ing.-Etzel-Straße, besser bekannt als „Die Bögen“. Der Viadukt ist das längste Bauwerk der Stadt Innsbruck und präsentiert sich je nach Tageszeit anders: Ist es hell, gibt es hier Kaffee, Keramik, Mopeds und Teppiche. Senkt sich die Dunkelheit über die Stadt, werden die Bögen zu einer Ausgehmeile.

Woche für Woche treffen sich hier Nachtschwärmer und gehen zu späterer Stunde im berühmt-berüchtigten Schmelztiegel Innsbrucks auf und ab. Für manche wirkt es grindig, für andere ist es ein Ort, wo sie sich immer schon wohlfühlten.

200 Jahre Vielfalt

@Schiessendoppler

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Die Viaduktbögen wurden Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut, um einen Weg für Züge durch Innsbruck zu schaffen. In den knapp 200 Jahren wurde der Raum darunter für Wohnungen, Ställe und Werkstätten genutzt. Anfang der 1990er-Jahre wurde schließlich jener kulturelle Grundstein gelegt, der die Gemüter der Innsbrucker Bevölkerung immer wieder beschäftigt. Die Nachtgastronomie zog ein und mit ihr das ganze Für und Wider.

Eines der ersten Lokale war das Weli, von Anfang an geführt von Dagmar „Daggi“ Niederegger und Stoffl Fuhrmann. Es ist eine Bar, die seit Jahrzehnten zeigt, wie verspielt Erwachsene sein können. Hier lässt nicht nur der Alkohol die Emotionen ab und zu hochgehen, sondern Activity, Mensch ärgere dich nicht, Trivial Pursuit oder eines der anderen 200 Spiele, die man sich für 0,36 Cent für einen Spieleabend in der Bar ausleihen kann.

Ein leichter Biergeruch ist dem Weli ebenso eigen wie der Terrakottafußboden, Pflanzen an den Fenstern und Regale voller Spiele und Bücher. Die CDs, die für die Musik im Hintergrund sorgen, bleiben manchmal hängen – der Genuss eines ganzen Pink-Floyd-Albums wird hier mehr geschätzt als eine Spotify-Playlist. Das Konzept hat sich bewährt: In den vergangenen 30 Jahren hat die Bar viele kommen und gehen gesehen.

Begonnen hat das Weli, als die Straße zum Großteil noch „gastrofrei“ war. „Vor uns war nur das Andreasstüberl und der Bogen-Hans, der den Bogen 13 als erstes Szenelokal betrieben hat“, erzählt Weli-Wirt Fuhrmann. „Dort konnte man tanzen und Getränke zu einem anständigen Preis bekommen.“

Dann kam das Weli, ein paar Wochen danach das Babalon. Bekannt auch für sein Markenzeichen: eine fast lebensgroße Marien-Statue mit immer brennender Kerze zu Füßen in der Mitte des Lokals. „In den 90ern war die Straße hip. Da ist man von Bar zu Bar gegangen und hat überall ein kleines Bier getrunken. Vom Babalon zum Down Under, ins Weli und am Schluss ins Plateau“, erzählt Fuhrmann. Den Ruf einer düsteren Gegend hat es ihm zufolge um die Jahrtausendwende bekommen: „Da sind mehr und mehr Clubs gekommen und die Öffnungszeiten haben sich bis in die Morgenstunden oder sogar Mittag ausgedehnt.“

In den Schlagzeilen

TT Archiv

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Wieder und wieder machten die Bögen Negativschlagzeilen. Drogen, Kriminalität, Vergewaltigungen und Straßenschlachten. Die rechtsradikale Szene ging in einem inzwischen geschlossenen Lokal ein und aus. Menschen, die mit abgebrochenen Flaschenhälsen aufeinander losgingen, und eingeschlagene Scheiben in so manchem Lokal waren die Folge.

Ein wenig zu großstädtisch für die kleine Alpenstadt. Stimmen, die vor einer Eskalation der Kriminalität warnten, wurden laut. Der Tiefpunkt war der Tod eines jungen Vorarlbergers 2018, dem nach einem Streit von einem Kontrahenten in den Hals gestochen wurde.

Bei mehreren Gesprächen mit Innsbrucks damals gerade erst gewähltem Bürgermeister Georg Willi, Vertretern der ÖBB, der Polizei und den Pächterinnen und Pächtern der Bögen wurden Veränderungen von allen Seiten gefordert und auch geschaffen. Hartnäckig hält sich in der Szene seither das Gerücht, dass die ÖBB als Besitzerin die einzelnen Bögen nicht mehr an Gastronomiebetriebe vermieten möchte. Dem widerspricht der Leiter des ÖBB-Immobilienmanagements für die Region Tirol, Gerhard Hofer: „Wir wollten und wollen einen neuen Mix zustande bringen. Das heißt aber nicht, dass wir Ausgehmöglichkeiten abdrehen oder keine Gastronomie mehr wollen. Das trifft einfach nicht zu.“ Für interessante und gute Konzepte – auch für die Nachtgastronomie – seien die ÖBB immer offen. Aber die Öffnungszeiten wurden auf 2 Uhr Früh verkürzt – zumindest für alle neuen Mietverträge.

Sechs Jahre nach dem Mord an dem jungen Vorarlberger zeigen sich die Bögen wortwörtlich in einem neuen Licht.

„Wir bekommen viele positive Rückmeldungen, was den Wandel betrifft.“

Gerhard Hofer (ÖBB)

Die Ing.-Etzel-Straße ist laut Innsbrucker Kommunalbetrieben (IKB) eine der hellsten Straßen der Stadt. „In Innsbruck wird generell zwischen 22 Uhr und 5 Uhr Früh die öffentliche Beleuchtung aus Energieeffizienz- und Umweltschutzgründen niedriger geschaltet. In der Bogenmeile hat man aus Sicherheitsgründen bewusst auf diese Nachtabsenkung verzichtet“, heißt es auf Anfrage. Außerdem wurden großräumig Überwachungskameras angebracht, die Gehsteige verbreitert und mehr Müllkübel aufgehängt. Heute ist die Straße eine Waffenverbotszone, bestimmte Lokale sind verschwunden, andere sind nachgekommen.

Laut den ÖBB zeigt das Bemühen der vielen beteiligten Parteien Wirkung: „Wir bekommen von den Anrainern positive Rückmeldungen, was den Wandel betrifft. Von dieser Seite sind die Anzeigen wegen Lärmbelästigung zurückgegangen“, erklärt Hofer. „Heute ist es eher wieder wie in den 90er-Jahren. Es ist lange nicht mehr so wild“, findet auch Stoffl vom Weli.

Die unterschätzte Besonderheit

@Praschberger

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@Schiessendoppler

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Für die Gäste steht aber ohnehin eine oft übersehene Seite der Bögen im Fokus. „Es ist der einzige Fleck in Innsbruck, wo noch Nachtleben existiert. Hier gibt es einfach die größte Vielfalt“, erklärt der 21-jährige Lorenz.

Die Menschen hier erzählen von integrativen, solidarischen und kuriosen Szenen der Nacht. Sie erklären, warum viele um den Fortbestand der Bögen kämpfen.

Wie beispielsweise Christian: „Eine positive Erinnerung ist, dass wir einmal einen Mann kennen gelernt haben, der uns einen türkischen Hochzeitstanz beigebracht hat. Den haben wir dann alle zusammen getanzt – irgendwann um 4 Uhr in der Früh auf der Straße.“

Selbst die verrufene Seite wird nicht per se als etwas Schlechtes empfunden: „Das wird vielleicht nicht allzu gerne gesehen oder gehört, aber gewisse Menschen schätzen das. Es trägt zum Charme bei“, meint der 37-jährige Matthias.

Einige Bögen weiter rechts vom Weli hat vor einem halben Jahr das Lokal „Kult“ eröffnet. Es riecht nach dem Holz der hellen Brücke, die sich durch den Bogen spannt. Sie ist Design, Lager, ein zweiter Raum, in dem aber wegen der Raumhöhe nicht bewirtet werden darf. Unter ihr ist die dunkel gehaltene Bar. Den Rest des Raumes nehmen Tische, Stühle und Bänke ein. Im Hintergrund hört man mal Punk-Songs, mal Velvet Underground und manchmal jazzigen Blues.

„Es soll ein gemeinsamer Platz sein, wo man immer allein hingehen kann, aber nicht allein ist.“

Christian (Wirt im Kult)

Die neue Wirtin und der neue Wirt des „Kult“ @Schiessendoppler

Die neue Wirtin und der neue Wirt des „Kult“ @Schiessendoppler

Tamara und Christian, Pächterin und Pächter des Kult, kennen den Ruf der Bögen. Sie kennen die Bögen aber auch anders, als die „offizielle“ Geschichte sie erzählt. Für Christian, der lange selbst Gast war, bevor er Wirt wurde, sind die Bögen ein Ort der Freiheit: „Man wird hier nicht verurteilt. Da läuft der Sandler herum, der am Boden Zigarettenstummeln zusammenkratzt, daneben geht ein Bonze, der in den berüchtigten Bögen einfach mal eine besondere Erfahrung machen will. Hier ist es viel wahrscheinlicher, dass ein Reicher einem Obdachlosen eine Zigarette oder einen Euro schenkt. In den Bögen trifft sich ein Querschnitt der Gesellschaft, weil sie der subkulturelle Treffpunkt der Stadt Innsbruck sind“, erklärt Christian.

Im Sinne dieser Zusammenarbeit hat sich auch das Bogenfest im Sommer, nach nur zwei Jahren, bereits als eine Institution in Tirol festigen können. David Prieth, Geschäftsführer der p.m.k., erklärt im Gespräch, wo der Mehrwert für Innsbruck und ganz Tirol liegt und wie das Fest in eine Zukunft der Bögen verweisen könnte:

Credit: Innsbruck Marketing | Lucas Micka

Credit: Innsbruck Marketing | Lucas Micka

Zurück im Kult schlägt Tamara den Bogen zurück in die Nacht. Für sie ist der Umgang der Menschen miteinander hier ein anderer als während des Tages „zwischen Einkaufsstraßen und Büro“: „Es kommt jeder ein bisschen mehr aus sich heraus. Und wenn du mehr aus dir herauskommst, lässt du vielleicht auch ein bisschen mehr rein, und dann siehst du halt, wie es anderen Leuten geht.“ Vielleicht liegt es am „Schleier der Nacht, dass hier alle so sein dürfen, wie sie sind“, meint Christian lachend. Und fügt dazu: „und am Alkohol im Blut“.

Zusammen in friedlicher Anarchie, beschützt durch die Masse. „Es ist halt so ein bisschen ein Ghetto und sicher nicht für jeden was. Aber hier helfen sich die Menschen auch, weil alle zusammenhalten“, fasst Christian die Solidarität zusammen.

Eine Imagekampagne, die das Schöne in den Mittelpunkt stellt – das wünschen sich die beiden. Am besten wären Bögen, die mit Konzerten und Treffpunkten für Jung und Alt belebt sind. Ein Raum für Subkultur, eine Zone für ein großes Miteinander. Wie das Bogenfest, nur eben nicht an einem einzigen Tag.

Daran zu glauben fällt Tamara allerdings schwer: Zu groß seien die Grenzen im Kopf und zu schlecht das Image. Stoffl vom Weli ist da pragmatischer: „Junge Menschen werden immer ausgehen wollen, und es wird immer jemanden geben, der das Bedürfnis stillt. So wie ich damals eine Art Wohnzimmer vermisst und dann selbst geschaffen habe.“

@Praschberger

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„Es soll Kult sein, es soll Kult werden, es soll Kult bleiben. Es soll ein gemeinsamer Platz sein, wo man immer allein hingehen kann, aber nicht allein ist.“

Christians Motto für das „Kult“ kann getrost auf die gesamten Bögen angewendet werden. Denn kultig ist das längste Gebäude der Stadt, das manchmal unerzogene, manchmal integrative Gewissen der Stadt Innsbruck längst.

Zurück auf der Straße kommen zwei Jugendliche mit einem Weihnachtsbaum entlanggewankt. Sie zerren ihn nach, stellen ihn anderen Menschen vor. „Der Baum will auch nur ein Bier, bevor er eingeheizt wird“, sagt einer von ihnen lachend. Die anderen auf der Straße machen bei dem Schalk mit, bieten dem Baum eine Zigarette an, tanzen um ihn herum. Dem Wahnsinn frönend, der keinem schadet, sondern nur Grenzen im Kopf sprengt. Sie klammern den Alltag aus, suchen Spaß oder produzieren ihn selbst.