Hochbegabt und tief enttäuscht

In Österreich werden schwache Schüler gefördert. Die mit einer besonders hohen Begabung hingegen kaum. Über ein System, das seine Besten vergisst.

Er schließt seine Augen, legt die vier mit Garn umwickelten Schlägel auf die hölzernen Stäbe der Marimba und atmet einmal tief durch. Dann beginnt Simon Gasteiger zu spielen. Erst leise, dann immer lauter. Sein Kopf nickt im Takt. Der 17-Jährige, schlaksiger Typ, das schwarze Shirt hinter die Hose gesteckt, lächelt. Hier im Proberaum, inmitten von Pauken, Gongs und Trommeln, fühlt sich der junge Tiroler wohl. „In der Schule wird mir vorgeschrieben, dass ich erst dieses und dann jenes machen soll“, sagt er. Und nichts davon verlangt ihm viel ab. Töne, Klänge, Rhythmen, Schlagzeug – das ist seine Welt. „Hier kann ich mein eigenes Tempo gehen, mich selbst immer wieder herausfordern. Kunst und Musik sind Zufluchtsorte für Hochbegabte.“ Gasteiger weiß das aus eigener, oft leidvoller Erfahrung.

"Endlich wusste ich, wieso ich anders bin."
Simon Gasteiger

Schon sehr früh, als kleines Kind, hat er das Gefühl, anders zu sein. Mit Gleichaltrigen verbindet ihn wenig. „Gewisse Sachen fand ich nicht lustig, weil sie mir zu unreif waren, ich stellte mir Fragen, die sich sonst niemand stellte, hab alles zerdacht, war sehr sensibel gegenüber Gerüchen und Lauten. Ich wollte dazugehören, merkte aber irgendwie, dass ich nur schwer dazugehören kann.“ Gasteiger wächst in Brixen im Thale auf, einem 2600-Einwohner-Dorf unweit von Kitzbühel. Dort besucht er auch die Volksschule, gehört zur Gruppe der Einser-Schüler, aber langweilt sich im Unterricht. 

Nach dem Wechsel ans Gymnasium wird alles zu viel. Irgendwann nimmt die Melancholie überhand. Mobber tun ein Übriges. „Eigentlich sollte jeder so sein dürfen, wie er ist“, sagt Gasteiger. Er durfte nicht. Während der folgenden Therapiesitzungen bemerkt ein Psychologe die schnelle Auffassungsgabe des Burschen und rät zum Intelligenztest. Das Ergebnis: ein IQ von über 130. Diagnose: hochbegabt. Der damals Elfjährige ist überrascht. „Aber vor allem erleichtert", erzählt er. „Endlich wusste ich, wieso ich anders bin.“

Inmitten von Pauken und Trommeln fühlt sich Simon Gasteiger (17) wohl.

Inmitten von Pauken und Trommeln fühlt sich Simon Gasteiger (17) wohl.

Gefördert werden nur Skifahrer und Fußballer

Etwas mehr als zwei Prozent der weltweiten Bevölkerung gelten als hochbegabt. Diese Menschen haben einen Intelligenzquotienten (IQ) von über 130. In Österreich wären das rund 180.000 Männer und Frauen, 15.000 in Tirol. 

Einer von ihnen ist Peter Berger, der seit mehreren Jahren den Tiroler Ableger des Hochbegabten-Netzwerks Mensa leitet und vor Kurzem zum Vorsitzenden des gesamtösterreichischen Vereins gewählt wurde. „Bundesweit haben wir zirka 1200 Mitglieder“, sagt er. „Es sind Kinder dabei, aber auch über 80-Jährige. Universitätsprofessorinnen gehören ebenso zu uns, wie Handwerker.“ 

Peter Berger ist hochbegabt, Mitglied von Mensa und seit Kurzem der Österreich-Vorsitzende des Vereins.

Peter Berger ist hochbegabt, Mitglied von Mensa und seit Kurzem der Österreich-Vorsitzende des Vereins.

In der Quantenphysik die kompliziertesten Theorien aufstellen, aber sich im echten Leben nicht zurechtfinden – von diesem, durch Fernsehserien wie „The Big Bang Theorie“ befeuerten Klischee hält Berger wenig. Jedoch gäbe es in Österreich viele Hochbegabte, die ihr Potenzial nicht ausschöpfen können. „Das liegt sehr viel an unserem Bildungssystem“, meint der Mensa-Vorsitzende. „Es wird eher nach unten geschaut als nach oben. Einzige Ausnahme ist, wenn du gut im Skifahren oder Fußball bist.“ Werden besonders intelligente Kinder oder Jugendliche in der Schule zu wenig unterstützt, habe das mitunter gravierende Folgen, sagt er. „Sie langweilen sich, verlieren den Anschluss, haben schlechte Noten.“ Es sei möglich, dass dadurch psychische Erkrankungen entstehen. 

"Ich sitze in der Schule und warte, bis aus ist."
Simon Gasteiger

„Nachdem das Testergebnis vorlag, haben meine Eltern die Lehrer über meinen IQ informiert“, sagt Simon Gasteiger. „Manche haben versucht, darauf einzugehen, im normalen Unterricht war mir dann trotzdem fad.“ Zwar habe er mehr Aufgaben zu erledigen bekommen, aber keine komplizierteren. Das enttäuschte ihn. „Mit einem riesigen Wissenshunger bin ich jeden Tag in die Klasse gegangen, aber nicht gefüttert worden.“ Schon vor einiger Zeit fand sich der 17-Jährige deshalb mit seiner Situation ab. Die Noten seien immer noch gut, unter die Einser mischen sich nun jedoch auch Zweier und Dreier. „Ich sitze in der Schule und warte, bis aus ist, um mich danach voll und ganz meinem Hobby, dem Schlagzeugspielen zu widmen. Da kann ich mich ausdrücken, austoben, meinen Hang zum Perfektionismus ausleben.“ 

Falscher Job, Unglück, Depression

Mensa-Präsident Peter Berger kennt viele Schicksale, die dem von Simon Gasteiger ähneln. „Unser System fördert vor allem die Schwachen. Die, die sich leichttun würden, werden vernachlässigt. Dabei sollte doch an beiden Enden des Intelligenzspektrums etwas geboten werden. Als Konsequenz verlassen viele gute Leute unser Land, weil ihnen nicht das geboten wird, was sie brauchen.“

"Sie ergreifen falsche Jobs, sind unglücklich und gleiten in die Depression ab."
Renate Birgmayer, Mensa-Vorstandsmitglied

Fatal sei auch, wenn ein besonders hoher IQ überhaupt nicht erst entdeckt wird, sagt Renate Birgmayer, Vorstandsmitglied bei Mensa und dort Beauftragte für Kinder und Jugendliche. „Diese Menschen bauen kein gutes Selbstwertgefühl auf, weil sie sich ständig Fragen stellen, die niemand beantwortet, dann werden sie vielleicht ins soziale Eck gedrängt.“ Birgmayer regt flächendeckende Tests an, da unerkannte Hochbegabung viele „ein Leben lang begleitet. Sie ergreifen womöglich falsche Jobs, sind unglücklich und gleiten irgendwann in die Depression ab.“

"Das Bewusstsein für die Thematik ist größer geworden."
Claudia Resch, Professorin an der PH Salzburg

Vergisst Österreich auf seine Hochbegabten? In gewisser Weise ja, sagt Claudia Resch, Professorin an der Pädagogischen Hochschule Salzburg und Leiterin des Österreichischen Zentrums für Begabtenförderung und Begabungsforschung (ÖZBF). „Bisweilen wir mehr auf die Gruppe der Risikoschüler geschaut. Auch wenn über die Matura oder PISA-Studie gesprochen wird, liegt der Fokus eher bei den negativen oder schlechten Ergebnissen.“

"Manche Bundesländer hinken sehr weit hinterher", sagt Claudia Resch von der Pädagogischen Hochschule Salzburg.

"Manche Bundesländer hinken sehr weit hinterher", sagt Claudia Resch von der Pädagogischen Hochschule Salzburg.

Resch glaubt aber, dass sich in der jüngsten Vergangenheit einiges getan hat. „Das Bewusstsein für die Thematik ist größer geworden.“ Im Volksschullehrplan des Jahres 1963 sei das Wort Begabung nur viermal vorgekommen, 21-mal im Jahr 2021 und im neuen Lehrplan für das Jahr 2023 insgesamt 115-mal. Auch im Schulunterrichtsgesetz werde der Begriff vermehrt verwendet, sagt sie. „Im Jahr 1974 kam er einmal vor, inzwischen 15-mal.“ 

Noch müsse sich allerdings viel tun, damit alle Begabten überall die gleichen Voraussetzungen vorfinden, sagt Resch. Denn es gebe zwar in Wien, der Steiermark, Kärnten und Niederösterreich Einrichtungen, die entsprechend veranlagte Kinder auffangen und mit ihnen arbeiten. „Manche Bundesländer hinken aber sehr weit hinterher. Tirol ist beispielsweise schon immer so ein Sorgenkind.“ Keine speziellen Programme, wenig Sensibilität. Hierzulande sei die Förderung von Begabten noch zu sehr davon abhängig, wo und in welche Familien sie geboren werden. „Die Eltern müssen viel dazu beitragen“, erklärt die Leiterin des ÖZBF. „Es darf aber nicht nur an der Eigeninitiative liegen. Irgendwann geht der Sinn von Schule verloren.“ 

"Die Begabtenförderung sollte ein verpflichtender Inhalt in der Ausbildung werden."
Claudia Resch, Professorin an der PH Salzburg

Resch wünscht sich, dass besonders die Lehrer künftig mehr auf das Thema aufmerksam gemacht werden. „Die Begabtenförderung sollte ein verpflichtender Inhalt in der Ausbildung werden“, sagt sie. „Noch gibt es bei vielen Lehrpersonen das Vorurteil, dass sich talentierte Schüler auch ohne Zutun durchsetzen. Das ist ein Trugschluss.“ Wie Österreich künftig mit besonders intelligenten Kindern und Jugendlichen umgeht, sei auch für die Entwicklung der Volkswirtschaft relevant. „Sie sind es, die Innovationen vorantreiben, Start-ups ins Leben rufen, Firmen gründen. Wenn wir diese Menschen nicht fördern, werden wir sie verlieren.“

Metal-Band, Blaskapelle, Kirchenchor

Simon Gasteiger hat im Alter von fünf Jahren mit dem Schlagzeugunterricht begonnen. 2015, als Neunjähriger, nahm er zum ersten Mal am Musikwettbewerb „Prima la Musica“ teil und gewann bei diesem inzwischen mehrfach Preise. Er besucht an bis zu drei Tagen die Woche Kurse am Mozarteum in Salzburg, seine Schule stellt ihn dafür eigens frei. „Das Ziel ist, Berufsmusiker zu werden“, sagt der 17-Jährige.

Simon Gasteiger mit Urkunden und Medaillen, die er für seine Leistungen bei "Prima la Musica" erhalten hat.

Simon Gasteiger mit Urkunden und Medaillen, die er für seine Leistungen bei "Prima la Musica" erhalten hat.

Für das angestrebte Musikstudium brauche er die Matura zwar nicht, will sie aber trotzdem ablegen. „Ich möchte mir andere Möglichkeiten offenhalten, vielleicht wechsle ich ja irgendwann in die Medizin.“

"Beim Chor war ich der mit Abstand Jüngste, aber das machte mir nichts aus"
Simon Gasteiger

Er spielt in einer Metal-Band, die unter anderem Metallica oder Deftones covert, ist Mitglied der Blaskapelle Brixen im Thale und im örtlichen Kirchenchor. „Ich habe schon als Kind gerne mit älteren oder ganz alten Menschen geredet. Beim Chor war ich mit Abstand der Jüngste, aber das macht mir nichts aus.“ Die Sängerkollegen und Sängerkolleginnen verstehen und akzeptieren ihn. Das gibt ihm ein gutes Gefühl. Er muss kein anderer, sondern darf Simon Gasteiger sein. Der Musik macht und Spaß daran hat.