Ein Marsch zwischen zwei Welten

Wie der Karwendelmarsch den Spagat zwischen Massenevent und Naturschutz schafft.

Das laute Brummen einer Motorsäge zerschneidet die Stille auf der Hochalm im Karwendel. Vereinzelt bleiben Wanderer stehen und schauen neugierig ins Gelände, um den Pulk an Menschen zu beobachten, die inmitten der Latschen am Hochleger stehen und zwischen den Kühen mit großen Baumscheren und der Säge hantieren. ­­­Rund 20 Helfer haben sich hier versammelt, um die Alm zu pflegen.

Die Almpflege ist eine wichtige Naturschutzmaßnahme, um die Artenvielfalt zu erhalten.

Die Almpflege ist eine wichtige Naturschutzmaßnahme, um die Artenvielfalt zu erhalten.

Auf dem Programm steht das so genannte „Latschenschwenden“: Die Bäume werden geschnitten, entbuscht und zum Teil entwurzelt, Steine und giftige Pflanzen von der Weidefläche geräumt. Es ist eine mühevolle und schweißtreibende Handarbeit, die die Bauern hier mit Hilfe von Freiwilligen durchführen. „Früher gab es die Almputzer, die den ganzen Sommer auf der Alm waren. Heute kann sich das niemand mehr leisten. Deshalb sind die Bauern auf freiwillige Helfer angewiesen“, erklärt Marina Hausberger, stellvertretende Geschäftsführerin des Naturpark Karwend­­­­el. 

2500 Läufer und Wanderer gehen in Scharnitz an den Start und laufen durch das Karwendel bis an den Achensee bzw. bis in die Eng.

2500 Läufer und Wanderer gehen in Scharnitz an den Start und laufen durch das Karwendel bis an den Achensee bzw. bis in die Eng.

Wenn drei Wochen nach der Almpflegeaktion 2500 Läufer und Wanderer im Rahmen des Karwendelmarsches über die Hochalm in Richtung Falkenhütte unterwegs sind, sind sie sich zum Großteil wohl nicht darüber bewusst, dass sie die Umweltmaßnahme mitfinanziert haben. Seit vergangenem Jahr fließen unter dem Motto "Spuren der Artenvielfalt" drei Euro pro Starter in Naturschutz- und Artenvielfaltsprojekte, die vom Naturpark Karwendel umgesetzt werden.

Es ist ein Spagat zwischen zwei Welten, den die Veranstalter seit 15 Jahren umzusetzen versuchen – einerseits einem sportlichen Massenevent und anderseits dem Versuch, möglichst wenig in die Natur einzugreifen, immerhin ist das Karwendel das größte und ältestes Schutzgebiet Tirols.

„Ich glaube, einmal im Jahr ist so eine Veranstaltung zu verkraften. Wenn etwas in die Natur zurückfließt, ist das ein Gewinn für alle.“

Marina Hausberger, stv. Geschäftsführerin Naturpark Karwendel

Die organisierenden Tourismusverbände Seefeld und Achensee sind von Anbeginn bemüht, den Naturschutz bestmöglich in den Marsch zu integrieren. Das setzen schon die Vorgaben des Landes voraus, denn die erste Version des Karwendelmarsches, die 22 Jahre lang vom Tiroler Skiverband (TSV) organisiert worden war, wurde aus Umweltschutzgründen eingestellt. Zwischen 1969 und 1991 marschierten beim Karwendelmarsch mehrere tausend Fitnessbegeisterte durch das sensible Gebiet, Dutzende Lkw karrten im Vorfeld Lebensmittel und Getränke zu den Labestationen. Schließlich untersagte die Umweltabteilung der Landesregierung dem TSV die weitere Durchführung aus naturschutzrechtlichen Gründen.  

Martin Tschoner (GF TVB Achensee, l.) und Elias Walser (GF TVB Seefeld) sind stolz auf die überregionale Zusammenarbeit beim Karwendelmarsch.

Martin Tschoner (GF TVB Achensee, l.) und Elias Walser (GF TVB Seefeld) sind stolz auf die überregionale Zusammenarbeit beim Karwendelmarsch.

„Es war gar nicht so einfach, diese Verbote viele Jahre später wieder wegzubekommen“, erinnert sich der Geschäftsführer des TVB Achensee, Martin Tschoner, der gemeinsam mit seinem Bruder Markus vom TVB Seefeld 2009 einen Neustart wagte. „Eine Großveranstaltung in einem Naturpark ist ja nicht ganz ohne. Wir haben aber gemeinsam mit dem Land und der Umweltabteilung einen Konsens gefunden“, sagt Tschoner heute.

„Es war gar nicht einfach, diese Verbote viele Jahre später wieder wegzubekommen.“

Martin Tschoner, Geschäftsführer TVBAchensee

Die Auflagen waren streng: Eine begrenzte Teilnehmeroberzahl, keine Hubschrauberflüge, streng limitierte Anlieferungen der Verpflegung durch Fahrzeuge. „Wir haben uns von Anfang an das Leben selbst schwer gemacht und ganz bewusst gesagt, dass wir nur gewisse Anlieferungen machen. Es sollte mehr als eine Sportveranstaltung werden, wir wollten ja auch zur Bewusstseinsbildung beitragen.“

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Die Latschen breiten sich im Karwendel in Windeseile aus, wenn sie nicht regelmäßig zurückgestutzt werden.

Die Latschen breiten sich im Karwendel in Windeseile aus, wenn sie nicht regelmäßig zurückgestutzt werden.

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Bei den Arbeiten sind zahlreiche Freiwillige vom "Team Karwendel" aktiv.

Bei den Arbeiten sind zahlreiche Freiwillige vom "Team Karwendel" aktiv.

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Die Teilnehmer profitieren auch von einem tollen Naturerlebnis.

Die Teilnehmer profitieren auch von einem tollen Naturerlebnis.

Im Lauf der Jahre kamen immer neue Maßnahmen zur Müllvermeidung hinzu: Die Plastikbecher sind schon lange verschwunden, selbst bei Umweltverpackungen und Müllsäcken achten die Veranstalter auf abbaubare Materialien. Medaillen und Pokale sind aus Holz, die beiden Sieger der Laufklasse bekommen keine Prämie, sondern dürfen einen Ahornbaum in der Eng pflanzen. Marschiert wird nur auf bestehenden Forstwegen, Banner und Werbematerialien findet man kaum, „und wenn, werden sie wiederverwendet“, betont Tschoner. Seit heuer gibt es außerdem eine Mitfahrbörse, damit sich die Teilnehmer bereits bei der Anreise Gedanken über ihr Umweltverhalten machen.

„Wir haben uns die Frage gestellt: Wie bewegt man sich in einem für uns so wichtigen Naherholungsgebiet?“

Elias Walser, Geschäftsführer TVB Seefeld

Cola und isotonische Getränke, wie bei anderen Sportveranstaltungen, sucht man beim Karwendelmarsch vergeblich. Stattdessen gibt es Suppen, Kräutertee, belegte Brote – „einzig die Bananen stammen nicht aus der Region, weil sie hier nicht wachsen“, gibt Tschoner zu. Dafür wird das Brot eigens gebacken, der Tee besteht aus einer speziellen Mischung, die extra für den Karwendelmarsch hergestellt wird. Und dann ist da auch noch die berühmte Blaubeersuppe, die den Teilnehmern in der Eng serviert wird – ihr Ruf reicht mittlerweile weit über den Marsch hinaus.

Elias Walser, Geschäftsführer des TVB Seefeld, beschreibt den Karwendelmarsch als „Pionier, nicht nur was die Nachhaltigkeit betrifft, sondern auch die überregionale Zusammenarbeit“. Mittlerweile werden die entwickelten Konzepte auch bei anderen Events in den beiden Tourismusregionen angewendet. „Wir haben Events innerhalb der Region, bei denen wir bezüglich der Nachhaltigkeit langsam dort sind, wo wir hinwollen. Da ist der Karwendelmarsch allerdings schon seit zehn Jahren“, befindet Walser.

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Ein „Green Event“ ist der Marsch dennoch noch nicht, was unterschiedliche Gründe hat. „Wir brauchen kein ,Wapperl‘, das uns ausweist. Wir leben das einfach vor und haben es geschafft, als Vorzeigeveranstaltung dazustehen“, sagt Tschoner dazu. Dass der Marsch als Referenzprojekt dient, wenn andere Veranstalter etwas Vergleichbares in den Regionen machen möchten, ist für ihn „Ritterschlag“ genug.

Die Bewusstseinsbildung wirkt, stellen auch Daniel White und Wolfgang Kratzer vom Bauhof-Team des TVB Seefeld fest. In der letzten Woche vor dem Marsch fahren sie die Strecke ab, platzieren Wegweiser an neuralgischen Stellen. „Aber nicht viele, nur da, wo es nötig ist“, betonen die beiden unisono.

"Es hat ein Umdenken stattgefunden"

Wenn in der Früh um 6 Uhr der Startschuss beim Naturparkhaus in Scharnitz fällt und sich die Menge in Richtung Eng Alm und weiter nach Achenkirch bewegt, beginnt wenig später schon wieder der Abbau. Dann, nach den letzten Startern, setzt auch Kratzer sein Fahrzeug in Bewegung. Er fährt den Besenwagen, der hinter dem gesamten Teilnehmerfeld nach dem Rechten schaut.

Seit neun Jahren ist er dabei, in dieser Zeit hat sich viel getan. „Als ich angefangen habe, waren die Starter nicht so diszipliniert. Mittlerweile sind sie aber sehr sauber, das ist von Jahr zu Jahr besser geworden“, erzählt er. Dass er entlang der Strecke aussteigen muss, um Abfälle einzusammeln, kommt kaum noch vor. Mittlerweile muss er mit seinem Fahrzeug hauptsächlich den Müll bei den Labestationen abtransportieren. „Ich glaube, es hat ein allgemeines Umdenken stattgefunden, das Thema Nachhaltigkeit ist mehr in den Köpfen drinnen.“

Auch die Freiwilligen – rund 300 sind den ganzen Tag im Karwendel im Einsatz – denken an die Müllvermeidung. „Es ist ein laufender Prozess“, ergänzt White. „Wir schauen, dass wir immer besser werden und weniger Müll produzieren.“ Auf die Menschenmenge hochgerechnet fällt laut Einschätzung Whites aber ohnehin nicht mehr viel an. „Von den Labestationen kommt alles zusammen in einen Container, der wird nicht einmal ganz voll. Hauptsächlich landen darin Pappbecher und Kartons aus der Umverpackung. Plastik gibt es so gut wie keines mehr.“

Hinter dem Putztrupp ist es meistens sauberer als an normalen Tagen entlang der Strecke, stellt auch Marina Hausberger vom Naturpark fest. „Natürlich ist der Marsch ein gewisser Eingriff in die Natur, es sind in kurzer Zeit viele Leute, die durchmarschieren. Aber man kompensiert es mit guten Maßnahmen“, ist die Naturschutz-Expertin überzeugt. Die drei Euro für das Projekt „Spuren der Artenvielfalt“ bewirken aber viel Positives, schiebt sie hinterher.

Für die Teilnahme bei der Hochalm-Pflege erhalten die Freiwilligen einen Startplatz für den Karwendelmarsch.

Für die Teilnahme bei der Hochalm-Pflege erhalten die Freiwilligen einen Startplatz für den Karwendelmarsch.

In den nächsten fünf Jahren sollen auf sämtlichen Almen entlang der Strecke konkrete Maßnahmen zum Erhalt und zur Verbesserung der Artenvielfalt umgesetzt werden. Welche das sind, entscheidet der Naturpark ohne Vorgaben. So werden etwa Totholzbäume aus der Nutzung der Waldbesitzer gekauft, damit sie im Wald bleiben können. Das wiederum ist gut für die Artenvielfalt. Ein besonderer Fokus liegt aber auf der Almpflege, erklärt Hausberger, während sie auf der Hochalm selbst mit der Motorsäge Hand anlegt und den Latschen an den Kragen geht: „Es ist wichtig, dass die Almen nicht verbuschen, denn extensive Weideflächen sind extrem artenreich.“

Die Almbauern im Karwendel sind über die Zusammenarbeit mit dem "Team Karwendel" erleichtert, weil es ohne die Freiwilligen gar nicht ginge, die Almpflege in der Art und dem Umfang durchzuführen, bestätigt Bernhard Artho.

Die Almbauern im Karwendel sind über die Zusammenarbeit mit dem "Team Karwendel" erleichtert, weil es ohne die Freiwilligen gar nicht ginge, die Almpflege in der Art und dem Umfang durchzuführen, bestätigt Bernhard Artho.

Bernhard Artho, stv. Obmann der Hoch- und Angeralm im Karwendel, ist jedenfalls froh über die Hilfe der Freiwilligen, die als „Team Karwendel“ auftreten. „Für uns bedeutet dieses Engagement, dass wir die Weidefläche halten können. Alleine wäre das unmöglich, denn das Gebiet ist riesig“, sagt er.

Bauern schaffen die Almpflege nicht ohne Hilfe

Einst haben 13 Rechtler Weidevieh auf die Alm rund um das Karwendelhaus über die Hochalm bis zur Falkenhütte gebracht. „Mittlerweile sind wir noch drei“, erzählt Artho. Wird die Alm nicht mehr gepflegt, wirkt sich das nicht nur auf die Weidetiere aus, sondern auch auf das Wild, das die Flächen im Frühjahr und Herbst nutzt. „Irgendwann würde hier alles mit Latschen zuwuchern, dann wäre keine Weidefläche mehr da. Wir hätten irreparable Schäden und damit hätten auch die Wildtiere kein Futter mehr.“

Freiwillige für das „Team Karwendel“ melden sich laut Hausberger immer einige. Trotzdem winkt bei ausgewählten Projekten ein Startplatz für den „Karwendelmarsch“, um die Freiwilligenzahl sicherzustellen. Auf die Teilnahme an dem Marsch hat sich ein regelrechter Run entwickelt, die Tickets für den heurigen Marsch waren binnen zwei Stunden ausverkauft. Wer also auf normalem Weg keine Startnummer ergattern konnte, kann es bei einer der ausgewählten Almpflegeaktionen versuchen.

Die Arbeit in den Bergen ist für Elisabeth Kalenberg ein willkommener Ausgleich zu ihrem stressigen Job. Beim Karwendelmarsch startet sie heuer bereits zum fünften Mal.

Die Arbeit in den Bergen ist für Elisabeth Kalenberg ein willkommener Ausgleich zu ihrem stressigen Job. Beim Karwendelmarsch startet sie heuer bereits zum fünften Mal.

Für Teilnehmerin Elisabeth Kalenberg aus Kolbermoor ist das ein schönes „Zuckerl“, nicht aber alleiniger Anreiz, um beim „Team Karwendel“ mitzumachen. „Das, was ich hier tue, ist nicht ganz uneigennützig, für mich hat die Arbeit auf der Alm einen hohen Erholungsfaktor, aus dem ich viel Energie für die Arbeit ziehe“, erklärt die Bayerin, während sie die Latschen auf der Hochalm auslichtet. Mehrmals im Jahr ist sie bei der Almpflege in Tirol aktiv, hat sich sogar ein kleines Wohnmobil gekauft, um damit zu den jeweiligen Aktionen anzureisen. „Man ist irgendwie immer Konsument, selbst hier im Karwendel konsumiert man die Natur. Wenn man dann auf sinnvolle Weise etwas zurückgeben kann, ist das schon eine gute Sache“, schwärmt die Deutsche.

André Guerrini macht schon länger beim "Team Karwendel" mit.

André Guerrini macht schon länger beim "Team Karwendel" mit.

Auch für André Guerrini ist der Startplatz nicht die einzige Motivation, um beim „Team Karwendel“ mitzumischen, auf den Lauf bis zum 52 Kilometer entfernten Achensee freut sich der Ultraläufer aus Absam aber trotzdem. „Die Kombination von Team Karwendel und einem Startplatz für den Karwendelmarsch macht Sinn. Mir ist der Erhalt der Natur einfach ein wichtiges Anliegen, zumal wir ja in der Nähe wohnen“, verdeutlicht der gebürtige Schweizer.

Die Veranstalter sind jedenfalls überzeugt davon, dass die Maßnahmen auch in Zukunft Früchte tragen werden. „Wir wollten immer etwas zurückgeben. Wenn wir diesen Lebens- und Erholungsraum für uns nutzen, dann möchten wir auch, dass die Teilnehmer das mitbekommen, dass sie darüber nachdenken“, erklärt Tschoner. Walser ergänzt: „Das Schöne ist, dass man schon vor Ort sehen kann, dass sich etwas tut, wenn man daran vorbeiläuft. Tu was, dann tut sich was. Dieses Motto lebt der Karwendelmarsch 365 Tage im Jahr.“

Bilder- und Videomaterial
Daniel Liebl, Renate Perktold, Tourismusverband Achensee, Tourismusverband Seefeld .